Produktentstehungsprozess: Die Evolution des Erstmusterprüfberichtes (EMPB)
Der Trend in der Fertigungsindustrie geht hin zu digitalen Erstmusterprüfberichten, um der zunehmenden Komplexität und Produktvielfalt sowie der Notwendigkeit intensiverer Abstimmung zwischen Kunden und Lieferanten gerecht zu werden.
Von der Entwicklung in die Serienfertigung
Im Automobilbereich werden hohe Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen an die Produkte und somit an die Prozesse der Zulieferfirmen gestellt. Warum ist das so?
Die immer engere Zusammenarbeit in der Lieferkette, kürzere Entwicklungszeiten, höhere Produktvielfalt und eine zunehmende Komplexität erfordert eine intensivere Abstimmung zwischen Kunde und Lieferant. Der Produktionsprozess und die Produktfreigabe werden anhand eines standardisierten Verfahrens dokumentiert, um die vereinbarte Qualität sicherzustellen, zum geplanten Zeitpunkt und in der geforderten Stückzahl. Der Trend geht weg von einer dokumentengeführten Umsetzung (via pdf-Formularen, Excel, etc.) hin zu einem digitalen Erstmusterprüfbericht. Dieser Artikel beschreibt die Details.
Definition Erstmusterprüfbericht
Als Erstmuster gelten die ersten Produkte (Teile, Baugruppen, Aggregate, Systeme, Module und Komponenten) einer Testfertigung, die mit serienmäßgigen Hilfsmitteln unter Serienbedingungen hergestellt wurden. Diese Komponenten werden zum Beispiel auf Maßhaltigkeit, mechanische und optische Eigenschaften geprüft, um nur einige zu nennen. Aus den Sollwerten Vorgaben des Kunden und den Prüfergebnissen wird der Erstmusterprüfbericht, abgekürzt EMPB, erstellt. Im englischsprachigen Raum wird vom First Article Inspection Report (FAIR) gesprochen.
Für die Prüfmuster gelten gemäß den normativen Anforderungen der Qualitätssicherung:
Produktion am Standort der Serienfertigung
Nutzung von Serienwerkzeugen und Vorrichtungen
Einsatz von Serienmaterial
Herstellung durch Mitarbeiter der Serienfertigung.
Zweck des EMPB
Der EMPB stellt ein wichtiges Element der Qualitätssicherung dar. Im Rahmen einer Entwicklung hat der Kunde meist nur Prototypen und technische Muster kennengelernt. Wird die Entwicklung in die Serie überführt, ergeben sich für den Hersteller Anpassungen an die veränderten Bedingungen. Durch die Erstmuster weist der Lieferant nach, dass die Anforderungen an die Serienproduktion und an das Produkt erfüllt werden. Gleichzeitig erfüllt der EMPB aus Sicht des Kunden sowie des Herstellers wichtige Zwecke:
Erteilung der Lieferfreigabe
Feststellung des gemeinsamen Verständnisses der Spezifikation durch Hersteller und OEM
Kontrolle und Festschreibung der Qualität der Serienfertigung
Absicherung des Lieferanten gegenüber dem Kunden über die Akzeptanz der Qualitätskriterien
Sicherheit für den Kunden über die Qualität seiner Waren
Relevante Daten für den EMPB
Spätestens nach der Vergabe des Auftrags durch den Kunden und vor der Entwicklung eines Bauteils, einer Baugruppe oder einer Software müssen die Anforderungen zwischen den OEM-Lieferanten und dem Kunden genau abgesprochen werden. Dies kann in Form eines Lastenhefts erfolgen. Üblicherweise wird das Abstimmungsgespräch auf der Grundlage von Konstruktionszeichnungen bzw. dem CAD-Modell durchgeführt. Dadurch lassen sich Missverständnisse, fehlende Machbarkeit oder falsche Annahmen rechtzeitig klären.
Die Anforderungen im Lastenheft enthalten in der Regel diese Informationen:
freigegebene Spezifikationen (inklusive gesetzlicher Vorgaben), Lastenheft, Zeichnungen, Normen, Verpackungsanweisungen, Änderungsstand, Farbmustertafeln
Termine und zeitliche Abläufe
Festlegung der Anzahl der zu prüfenden und zu liefernden Produkte
Geltungsbereich der Kundenfreigabe
Anlieferungsorte für Muster
Produktumfang
Nachweise zur Software
Umgang mit Setzteilen
Mess- und Prüfmethoden
Produkt- und Prozessmerkmale für Fähigkeitsuntersuchungen
Durchführung des PPF-Verfahrens am Produktionsstandort
Festlegung Leistungstest bzw. Prozessvalidierung
Anforderungen an die Dokumentation
Umgang mit Abweichungen
Requalifikationsprüfungen
Prozess zur Schadteilanalyse
Reklamationsbearbeitung
Gründe für die Erstmusterprüfung
Am häufigsten werden EMPBs erstellt, wenn ein neues Bauteil für einen Kunden entwickelt wurde und in die Serienfertigung übernommen wird. Es gibt jedoch mehrere Gründe für eine neue Erstbemusterung.
Die Produktion eines neuen Teils oder einer neuen Produktgruppe
Änderung des Fertigungsverfahrens, beispielsweise durch andere Materialien, neue oder geänderte Werkzeuge oder andere Produktionsmittel
Änderung der Konstruktionsdaten
Wechsel des Zulieferers
Wiederfreigabe nach Behebung von Fehlern
Verlagerung der Fertigung an einen anderen Standort
Je nach Branche ist in der laufenden Serie eine Requalifizierung notwendig. Gemäß der ISO 9001 reichen hierfür Qualitätskontrollen und Freigaben. Für den Automotive-Bereich ist nach IATF 16949 eine regelmäßige Requalifizierung ähnlich der Erstbemusterung notwendig. Die Anforderungen an der Überprüfung lehnen sich an den EMPB an. Die Normenanforderungen sind umgesetzt, wenn folgende Umfänge geprüft werden:
Vollständige Maß- und Funktionsprüfung
Werkszeugnis für Material und Funktion.
Für die Requalifizierung werden die Formulare des EMPB verwendet. Es müssen nur die geänderten Daten neu überprüft werden. Bei Produktionsverlagerung oder längerem Stillstand müssen Sie alle Parameter prüfen.
Inhalte des Prüfberichts
Mit dem Erstmusterbericht weist der Lieferant die Qualität seiner Produkte in der Serienproduktion nach. Deshalb sind alle Qualitätskriterien enthalten, die zwischen Kunden und Lieferanten vereinbart wurden. Im Bericht werden die SOLL- und IST-Werte der einzelnen Parameter gegeneinander verglichen. Je nach Komplexität sind ergänzende Informationen gefordert, wie die Dokumentation der Einzelteile, Etiketten oder des Montageprozesses. FMEA’s und die Umsetzung dieser Maßnahmen können ebenfalls Bestandteil eines Prüfberichts sein.
Die Inhalte im Überblick:
Deckblatt mit Artikelstammblatt
Selbstbeurteilung zu Produkt, Produktionsprozess und ggf. Software
Nachweise zur Produkt- und Produktionsprozessentwicklung (z.B. Prozessablaufdiagramme, Produktionslenkungspläne, Stücklisten und Materialdaten, )
Nachweise zur Verifizierung des Produktes (z.B. Prüfergebnisse und Freigabedokumente)
Nachweise zur Validierung des Produktionsprozesses (z.B. Laborqualifizierung)
Generelle Nachweise (z.B. Nachweise zur Einhaltung gesetzlicher Anforderungen, Bestückungsdrucke)
Nachweise zur Software
Nachweis, dass die Bemusterungen entsprechend dem VDA Band 2 durchgeführt worden sind und der IMDS-Datensatz erstellt wurde
Zusammen mit dem Prüfbericht müssen die Musterteile eingereicht werden. Die Anzahl der Proben sollte bereits in der Angebotsphase berücksichtigt werden.
Auszug aus einem Standard EMPBDie Dokumente werden in vielen Fällen noch im pdf, Word oder Excel Format ausgetauscht
Anzahl der Prüfmuster
Die Anzahl der Prüfmuster sollte bereits während der Angebotsphase festgelegt werden. Sie richtet sich meist nach dem Umfang der durchzuführenden Prüfungen. Bauteile aus zerstörungsfreien Prüfungen können anschließend der Serie zugeführt werden. Bei der Anzahl der Erstmuster müssen Sie einige Punkte berücksichtigen:
Bei formgebenden Verfahren für hohe Stückzahlen werden oft mehrere Werkzeuge oder ein Werkzeug mit mehreren Kavitäten genutzt. In diesen Fällen müssen Sie für jedes Werkzeug oder jede Kavität mindestens ein Prüfmuster bereitstellen.
Gibt es von einem Bauteil mehrere Varianten, entscheidet der Kunden, wie viel Muster er von jeder Ausführung benötigt. In den meisten Fällen können diese Varianten in einem EMPB zusammengefasst werden. Dies gilt beispielsweise bei unterschiedlichen Farben, verschiedenen Dekostoffen oder Softwareversionen. Werden jedoch verschiedene technische Anforderungen an die Varianten gestellt, sollten diese mit getrennten EMPB nachgewiesen werden.
Die Testfertigung ist unabhängig von der geplanten Stückzahl der Fertigung. Auch bei kleinen und mittleren Serien müssen Sie eine Testproduktion durchführen. In solchen Fällen verlangen die Kunden überwiegend geringere Stückzahlen für diesen Testlauf. Trotzdem müssen Qualität und technische Merkmale nachgewiesen werden.
Bewertung der Erstbemusterung
Die Erstmuster und der Erstmusterbericht werden nach dem Erstellen intern beim Lieferanten geprüft. Wurde von der Qualitätssicherung eine Freigabe der Dokumente und Muster erteilt, werden diese dem Kunden zur Verfügung gestellt. Nach erfolgter Kontrolle durch den Kunden erfolgt die Bewertung der Muster in drei unterschiedlichen Freigabestufen:
Vollständige Freigabe: Berechtigung für die Serienproduktion ohne Auflagen
Eingeschränkte Freigabe: Serienproduktion nur mit Auflagen und der anschließenden Korrektur
Abgelehnt: Keine Serienproduktion aufgrund von Mängeln am Produkt oder in der Dokumentation.
Nur bei vollständiger Freigabe kann die Produktion ohne weitere Einschränkungen gestartet werden. Bei geringen Fehlern, die die Funktion nicht beeinträchtigten, erfolgt in der Regel eine eingeschränkte Freigabe. Für die notwendigen Änderungen wird eine Zeitspanne oder eine maximale Stückzahl vereinbart. Ist die Änderung bis zu diesem Punkt nicht umgesetzt, muss die Produktion gestoppt werden.
Erstmusterprüfung nicht bestanden
Nicht immer wird die Erstmusterprüfung sofort bestanden. Bei Abweichungen oberhalb der Toleranzgrenzen müssen Sie Abstellmaßnahmen durchführen und dokumentieren. Nach der Umsetzung der Änderungen wird erneut eine Testproduktion unter Serienbedingungen durchgeführt. Aus dieser neuen Fertigung werden erneut Erstmuster entnommen und geprüft. Dieser Rhythmus erfolgt so lange, bis eine Freigabe der Prüfmuster erfolgen kann.
Digitaler EMPB
Ein Erstmusterprüfbericht enthält viele Daten, wodurch der Aufwand sehr groß ist. Bauteile aus mehreren Materialien, komplexe Baugruppen oder verschiedene Anforderungen an die Varianten erhöhen zusätzlich die Prüf- und Bearbeitungszeit. Manuelle Übertragung von Daten kann zusätzlich zu Fehlern führen. Deshalb etabliert sich die digitale Bearbeitung von EMPB immer stärker. Die Vorteile liegen in:
Zeitersparnis durch automatische Datenübernahme aus Zeichnungen
Digitaler Datentransfer und dadurch papierlos
Fehlerfrei und standardisiert und damit unabhängig vom Bearbeiter
Direkte Übernahme von Messwerten digitaler Messmittel in den Prüfbericht
Zeitersparnis bei Folgebemusterungen, für Requalifizierung, wegen abgelehnter Berichte oder aufgrund von Änderungen
Übernahme von Sollwerten direkt aus den Zeichnungen vom Kunden.
Durch die Digitalisierung des Prüfberichts sparen Sie mindestens 50 % der Arbeitszeit Ihrer Fachkräfte. Gleichzeitig gewinnt Ihre Firma dadurch Zeit bei der Weiterleitung und Freigabe durch den Kunden. Dank eindeutiger Zuordnung der Daten, Zeichnungen und Prüfergebnissen kann die Serienproduktion schneller starten.
Vorteile der digitalen Bemusterung mit der Supply Chain Collaboration Plattform material.one
Eine weitere Erleichterung für Hersteller bietet die Supplier Network Collaboration Plattform von material.one. Diese Cloud-basierte Lösung verbindet in diesem Use-Case seiner Plattform Hersteller und Prüflabore, um den vollständigen Prüfprozess zu digitalisieren. Anhand der 3D-Daten des Bauteiles sowie gesetzlichen Normen und Prüfvorschriften des Kunden wird ein Vorschlag für einen Prüfplan erstellt. Anfragen an verfügbare Labore und die Einstellung von Ergebnissen in den EMPB übernimmt die Software von material.one selbstständig. Ihr Vorteil der Supplier Network Collaboration Plattform ist die weitere Einsparung von wertvoller Arbeitszeit. Der Ablauf erfolgt in folgenden Schritten:
Der Kunde stellt über die Plattform die 3D-Daten mit den Anforderungen zur Verfügung
Die Plattform erstellt einen Entwurf für einen Prüfplan und fragt Testinstitute und Labore an
Die Prüflabore testen das Produkt und stellen die Ergebnisse selbst in der Cloud ein
Aus den Daten wird ein EMPB erstellt und geprüft
Der Kunde erhält den Prüfbericht und entscheidet gemäß Vorgaben über die Freigabe
Der EMPB wird archiviert.
Neben den Normanforderungen an die Prüfungen verfügt die Plattform über Schnittstellen zu Datenbanken. Dadurch können Informationen über Material- und Werkstoffbemusterungen, Rezyklatanteile und Zertifikate automatisch in den Bericht eingebunden werden. Auf diese Weise können Sie auch den CO₂-Footprint für den Kunden bereitstellen.
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Mehr über material.one
Mit material.one können alle Teilnehmer standardisiert und Compliance-konform nach dem "need to know" Prinzip zusammenarbeiten. Es handelt sich um eine Industry Cloud Platform, die sowohl Informationen über Material- und Werkstoffbemusterungen, Rezyklatanteile, Zertifikate als auch über den CO₂-Footprint bereitstellt.